Intercorporeal Splits 2010-13
ZYKLUS VON DREI SKYPEPERFORMANCES | |
Wie verändert die Kommunikation über digitale Kanäle unser Bewusstsein, unsere Einbettung in die Welt und unsere Sinnesbezüge? Der künstlerische Projektzyklus »Intercorporeal Splits« beforscht die Phänomenologie digitaler Zwischenleiblichkeiten - die einzelnen Teilprojekte fokusieren auf die Medialität von Stimme, Haut und Rhythmus.
Intercorporeal SplitsHrsg: Daniel Fetzner und Martin Dornberg (2015) Schweizer Broschur mit Fadenheftung, 304 Seiten inkl. Audio CD |
In den hyperlokalen Begegnungen von miteinander via Skype interagierenden Improvisationskünstlern werden dissonante Präsenzerfahrungen evoziert. Welche Orts-, Zeit und Körperbeziehungen bilden sich aus und wie wird der Mangel an realer Begegnung von den Akteuren erlebt und kompensiert? Besondere Beachtung findet dabei die Art der Verkörperung in den jeweiligen Situationen - einem indischen Insektenlabor, einem südbadischen Mediamarkt im Vorweihnachtsgeschäft, dem rhizomatischen Geflecht der Megacity Kairo sowie einer ehemaligen Arbeiterkneipe in Freiburg/Haslach. » Fotos
Voice via Violin1. STIMMEKairo-Freiburg 2010/11
23. JANUAR - 27. FEBRUAR 2011 AUSSTELLUNG IM KULTURWERK T66 14. APRIL 2011 VORTRAG IM GOETHE INSTITUT CAIRO 03. JULI - 25. SEPTEMBER 2011 AUSSTELLUNG IM
KUNSTVEREIN PFORZHEIM |
PEAU/PLIE2. HAUTSélestat-Freiburg 2012
Mediale Faltungen des Innen in das Aussen und des Aussen in das Innen 23. APRIL 2012 / 14 UHR DISKUSSION AM INSTITUT FÜR MEDIENKULTURWISSENSCHAFT 05. MAI 2012 / 17 UHR SKYPEPERFORMANCE IM FINKENSCHLAG/HASLACH 16. MAI - 16. JUNI 2012 RAUMINSTALLATION IM SCHAUFENSTER Sélestat 07. JULI 2012 VORTRAG SYMPOSIUM EPHEMER Kunsthalle Kiel 14. JULI 2012 SCREENING SHOWTIME FINKENSCHLAG Theater Freiburg |
Phase Delay3. RHYTHMUSBangalore-Freiburg 2012/13
Medienexploration zum Phänomen der ›fehlenden Halbsekunde‹ 12.-14. JULI 2013 INSTALLATION UND DISKUSSION IM E-WERK Freiburg |
Künstlerische Forschung »INTERCORPOREAL SPLITS«
»Zwischen den Dingen bezeichnet keine lokalisierbare Beziehung, sondern ein Strom ohne Anfang oder Ende, der beide Ufer unterspült und in der Mitte immer schneller fließt.« Deleuze/Guattari, 1992
Indem wir uns die Technik einverleiben und sich die Sphären des Technischen mit denen des Organischen verschränken, verändert sich der Wirklichkeitsbezug des Menschen. So wird die kategoriale Trennung von Natur und Kultur, Mensch und Maschine, Subjekt und Objekt von Max Bense bereits 1951 in Frage gestellt. Wie soll man die Technik »geistig in der Hand halten«, während sie einem zugleich »unter die Haut geht«, fragt der Kybernetiker in seine Buch „Technische Existenz“. Seither weicht die Allgegenwart der elektronischen Hypersphäre den Körper als ein in sich abgeschlossenes Zellwesen zunehmend auf. Die zeitlichen und räumlichen Topologien des Ich erfahren immer neue Faltungen und Teilungen.
|
|
Vortrag und Diskussion zu »Intercorporeal Splits« auf der mbody-Tagung im Juli 2013 im E-Werk Freiburg
Eine wesentliche Rolle bei diesen Prozessen spielen die Rhythmen und Schwingungen »der Funktionen und Luftlinien, der Maschinen, Städte und der ewig an die Pforte klopfenden Massen« (Bense 1951). Demgegegenüber takten moderne Prozessoren in allen Stimmlagen mit mittlerweile mehreren Milliarden Hertz. Sequentialitäten, die sich über opto-akustische Interfaces wie Bildschirm/Auge und Lautsprecher/Ohr verschränken, dabei aber interferieren und kaum gänzlich synchronisierbar sind. Und dennoch passt sich unser Organismus mit seinen multiplen innerkörperlichen Grooves der Taktung der Maschinen an. Das künstlerische Forschungsprojekt »Intercorporeal Splits« untersucht solche rhythmischen Figuren und ihre Dissonanzen, wie sie etwa bei der Videotelefonie, oder besser beim Skypen in Erscheinung treten. Die gleichnamige Microsoft-Anwendung versetzt seit zehn Jahren abwesende Körper von weltweit 700 Millionen Nutzern in hyperlokale Schwingungen.
Das Projekt ist in einen Zyklus aus drei Skype-Performances und dazugehörigen Ausstellungen unterteilt; die translokale Improvisation »Voice via Violin« (2010/11) zweier Musiker generiert drittkörperliche Erfahrungen von digitaler Zwischenleiblichkeit. »Peau/Pli« (2012) will mit Mitteln des Tanzes und signalverstärkender Elektroden Realitätsverschiebungen, Transitionen und Fluktuationen zwischen verschiedenen stadträumlichen Situationen auf- und entfalten. Mit »Embedded Phase Delay« (2012/13) findet schliesslich eine Untersuchung zu Zeit-Raumverschiebungen sowie dem Helmholtz-Phänomen der fehlenden Halbsekunde zwischen einem elektronischen Musiker, einem Tänzer sowie einem Tablaspieler statt.
Rauminstallation »Intercorporeal Splits« im E-WERK Freiburg, Juli 2013 | Um den Performances eine leibkörperliche und rhythmische Vielschichtigkeit zu verschaffen, werden die Akteure in ein indisches Insektenlabor, einen südbadischen Mediamarkt, in das rhizomatische Geflecht der Megacity Kairo sowie in eine ehemalige Arbeiterkneipe in Freiburg/Haslach nomadisch eingebettet. |
Auf der Theorieebene bedient sich »Intercorporeal Splits« der Umweltmodelle des Biologen Jakob v. Uexküll, der Rhythmusanalysen von Henri Lefebvre und Gilles Deleuze sowie des Begriffs der Zwischenleiblichkeit des Phänomenologen Merleau-Ponty.
Laut Deleuze werden Rhythmen über »ständige Transcodierungen aus dem Chaos geboren« und erst über Verknüpfungen von einem Milieu in ein anderes wirksam. Durch das mediale Interplay der Improvisationskünstler via Stimme, Haut und Rhythmus werden in diesen Umwelten lokale „Funktionskreise“ mit spezifischen Temporalstrukturen (v. Uexküll) in Gang gesetzt, die spezifische Umwelten und Verkörperungen schaffen. Das funktioniert gerade deshalb, weil Kairo ein gänzlich anderer Rhythmus innewohnt als Bangalore, die Datenverbindungen anders takten als die Mikrorhythmen des Körpers und die Stimmbänder unterschiedlich schwingen wie Lautsprechermembrane. Die einzelnen Umwelten erfahren über die elektronische Verbindung eine Asynchronizität, während sich die Künstlerkör- per kinästhetisch in ihre lokalen Handlungsfelder erweitern. In der hyperlokal-ortlosen, aber zielorientierten Vermittlung der Performances wird durch situative Handlungszusammenhänge ein »Strom ohne Anfang und Ende« (Deleuze) erzeugt, der eine künstlerisch-performative Zwischenleiblichkeit unter den Akteuren generiert.
Diskussion »Intercorporeal Splits«: Michael Harenberg, Daniel Fetzner, Ephraim Wegner, Harald Kimmig, Graham Smith und Martin Dornberg (v.l.n.r.)
Wie verändert sich während der Performance die Propriozeption, das Körpergefühl, das Zeit- und Raumempfinden der beteiligten Personen? Wie entwickeln sich Takt, Stimmung, Tempo, Dauer, Atem, Körper-Performanz und das bewegte Bild im medialen Dazwischen? Wie »sampelt« das Bewusstsein Zeit und Raum und wie überformt das Technische dabei unser Sein? Annähernd verstehen lässt sich das nur, wenn man die Zeit nicht als einen linearen Fluß begreift, sondern als ein Feld sich überlagernder Temporalstrukturen, das sich fortlaufend über diskontinuierliche Transversalen neu formiert. Die Rhythmen einer Situation, eines Gefühls, eines Gedankens lassen sich offensichtlich nicht synchronisieren, der Körper ist eben kein Metronom. Sich überlagernde Zeitfenster öffnen dabei zwischen Ereignis und Wahrnehmung eine Vielzahl an nicht ortbaren Zwischenräumen. Gerade deshalb aber entstehen in den Skypebegegnungen trotz der technischen Latenzzeiten und der Komprimierungs- artefakte Formen von digitaler Zwischenleiblichkeit unter den Akteuren. »Intercorporeal Splits« untersucht, wie in diesem Zell- und Handlungsgewebe die oszillierenden Übertragungslücken erlebt werden und mit welchen Interaktionserfahrungen, organischen Schwingungen und gelungenen Momenten sie sich füllen.
Literatur
Didier Anzieu (1996) Das Haut-Ich. Frankfurt: Suhrkamp
Max Bense (1951): Technische Existenz. Stuttgart: DVA
Gilles Deleuze/Felix Guattari (1992): Tausend Plateaus. Berlin: Merve
Gilles Deleuze (1988) Die Falte. Frankfurt: Suhrkamp
Martin Dornberg (2013) Die zweigriffige Baumsäge. Überlegungen zu Zwischenleiblichkeit, Umweltbezogenheit und
Überpersonalität, in: Breyer, T. (Hg.), Grenzen der Empathie. Paderborn: Fink
Daniel Fetzner (2009): Max Bense als Vordenker des Postmedialen, in: Selke S. (Hg.), Postmediale Wirklichkeiten.
München: Telepolis
Henri Lefebvre (2004): Rhythmanalysis. London: Continuum
Maurice Merleau-Ponty (2003): Das Auge und der Geist. Hamburg: Meiner Henning Schmidgen (2009): Die Helmholtz-Kurven. Berlin: Merve
Jakob v. Uexküll (1928): Theoretische Biologie. Berlin: Springer