«

Lifelogging Selbstversuch

Waldemar Hass

Wer die Welt verbessern will, muss beim eigenen Ich anfangen - sich ausrechnen, zerlegen, neu kartografieren und mit Nummernschildchen behängen.

											-De:Bug Magazin
  1. Quantified Self Bewegung
  2. Probedurchläufe
  3. Versuchsnotizen
    1. Tag 1
    2. Tag 2
    3. Tag 3
  4. subjektive Zeit
  5. interaktives Video
  6. Literatur

Quantified Self Bewegung

Die Quantified-Self-Bewegung die sich langsam auch in Europa angekommen ist. Man beobachtet hierbei den eigenen Körper mithilfe von Apps und Gadgets versucht ihn dabei besser kennen zu lernen, ihn zu formen und aus sich selbst das Optimum rauszuholen.

Dieser Gedanke ist sehr verlockend. Doch was für eine Veränderung bewirkt das Selbstvermessen bzw. Selbstverbessern für meine Denkweise? Werde ich die Verhaltensweisen internalisieren, sodass sie fester Bestandteil von mir werden?

Aufbau

Mit einem Selbstversuch möchte versuchen die oben erwähnten Frage ob sich meine innere Uhr und ähnliche Automatismen mithilfe dieser Gadgets nach außen verlagert und nicht mehr Bestandteil meines internen Regulationsmechanismus.

In der ersten Woche des Selbstversuchs werde ich zunächst ohne technische Hilfsmittel meine Bewegungs- und Schlafgewohnheiten dokumentieren um den Ist-Zustand zu sehen. In der zweiten Woche werde ich mit einem Bewegungs- und Schlaftracker ausgestattet, versuchen ein Optimum an Bewegung und Schlaf zu erreichen das mir vom technischen Hilfsmittel auferlegt wird. In der letzten Woche lege ich nun wieder den Tracker ab und dokumentiere nun den neuen Ist-Zustand. Falls sich nun Veränderungen in der letzten Woche ggü. der ersten Woche eingestellt haben, kann man behaupten, dass das Gerät meine Gewohnheiten verändert hat.


Probedurchläufe

Nach einigen Tests zum Versuchsaufbau, entschied ich mich dafür mich auf das Lifelogging mittels einer Kamera zu konzentrieren.

Zunächst führte ich einige Probedurchläufe mit der mir zur Verfügung stehenden Hardware durch. Diese bestand aus:

  • FitBit Tracker (Bewegungs- und Schlaftracker)
  • einer Pulsuhr
  • LumoBack-Gurt (Gurt zur Korrektur der Körperhaltung)
  • Lifelogging Handy

Nach ersten Probedurchläufen mit dem FitBit Tracker, der Pulsuhr und dem LumoBack-Gurt, merkte ich, dass die Gerätschaften nicht die gewünschten bzw. erwarteten Effekte auf mich bzw. meine Psyche hatten, deswegen entschied ich mich für das Lifelogging mittels einer Kamera. Unter den mir von Herrn Selke bereitgestellten Gerätschaften befand sich auch ein Handy. Dort ist eine Eigenentwicklung der Fakultät GSG installiert mithilfe derer man in einem bestimmten Intervall Fotos mit der integrierten Handykamera aufgenommen werden. Hierbei wird das Handy auf Brusthöhe mittels einer Schlaufe befestigt. Danach öffnet man die Lifelogging App und wählt ein Intervall in dem Schnappschüsse aufgenommen werden.

Während des Lifeloggings ist das Handy dabei die ganze Zeit im aktiven Zustand, d.h. das Display ist die ganze Zeit angeschaltet. Daraus ergab sich leider die Limitierung, dass ich den Versuch leider nur solange am Stück durchführen konnte wie der Akku hielt.

Ich habe den Versuch der Selbstüberwachung über mehrere Stunden (solange der Akku hielt) an 3 Tagen aufeinanderfolgenden Tagen durchgeführt.


Versuchsnotizen

1. Tag: Ich wähle die Versuchszeitraum bewusst an einem Wochenende (Freitag, Samstag und Sonntag), weil meine Mitbewohner meistens über das Wochenende nachhause fahren. Ich will sie nicht in unangenehme Situtation bringen. Mir selbst macht es zwar zu Beginn wenig aus, aber aus Rücksicht meinen Mitmenschen gegenüber hab ich versucht niemanden unfreiwillig mit einzubeziehen. Zunächst hat die Überwachung mittels Kamera kurzfristig gesehen einen positiven Aspekt. Ich prokrastiniere nicht mehr am Laptop. Nachdem ich die Lifelogging App starte, gehe ich sofort an die Arbeit (3D Modelling). Selbst die routiniersten facebook Besuche sind unterbunden. Ich bin tatsächlich produktiver und das nur dadurch, dass eine App Schnappschüsse aus meinem Alltag macht.

Ich schreibe mit einem Kommilitonen auf dem Handy und muss dabei aufpassen, dass die privaten Gespräche nicht plötzlich durch mich veröffentlich werden.

Beim Kochen dann, der Gedanke der mich selbst überraschte. Ich tippe auf dem Handy als nebenher das Wasser mit den Nudeln kocht. Abgelenkt von der digitalen Diskussion bemerke ich nicht, dass das Wasser überkocht und reagiere darauf erst als das Zischen auf der Herdplatte zu hören war. Nachdem ich den Topf vom Herd genommen habe, schießt mir der Gedanke durch den Kopf: "Die Kamera hätte das kommen sehen."

Normalerweise sehe ich mir beim Essen eine (ganze) Episode einer Serie an, falls keine Gesellschaft da ist beim Mittagstisch. Nach 10 Minuten bin aber schon fertig mit dem Essen. Kurze Zeit später beginnen die inneren Monologe: "Die Kamera sieht, dass die unproduktiv bist." etc. Ich muss mich zwingen die Episode zu Ende zu schauen und sie kommt deutlich länger vor als sonst.

Nachmittags stand kein weiteres Tagesgeschäft mehr an und um mir die Zeit zu vertreiben und mir nicht ständig selbst die Frage zu stellen: "Wann ist denn der Akku leer?", konfigurierte ich mein MediaCenter PC, es gibt eigentlich nicht zu konfigurieren, aber ich kann ja nicht den ganzen Nachmittag damit verbringen Serien zu schauen. Nach 2 Stunden beende ich das Projekt MediaCenter. Ein kurzer Blick auf das Handydisplay verrät mir, dass der Akku bald aufgeladen werden muss. Ich schaue den "survival man" bei dmax.

2. Tag: Die erste Euphorie bezüglich der Prokrastination ist verflogen. Die Kamera beachte ich mittlerweile kaum. Wenn Gedanken aufkommen wie "Ich sollte doch mal was Produktives machen, da es die Kamera sieht.", beantworte ich sie mir selbst damit, dass es ja nichts Schlimmes sei und es doch egal sei, da mir nicht geschehen wird.

Am Nachmittag dann die erste heikle Situation. Ich muss eine Rechnung bezahlen per online banking währrend die Handykamera auf den Laptopmonitor gerichtet ist. Generell habe ich keine Angst vor Datenklau im Internet (phishing usw), wenn es aber direkt auf Brusthöhe des eigenen Körpers stattfindet, denkt man plötzlich anders darüber. Vielleicht schaffe ich es alles einzugeben während die Kamera inaktiv ist!? Nach kurzem Überlegen mache ich es trotzdem.

Ich erhalte einen Anruf von meinen Eltern, die Üblichen Gesprächsthemen: Wie geht's? Was machst du? Was hast du gemacht? Dabei sitze ich im Stuhl und schaue eine Wand mit einem Poster an. Was wohl der Betrachter der Schnappschüsse nachher denken wird. Vielleicht etwas wie: Wieso sieht er sich eine halbe Stunde lang das Poster an? Ist er im Stuhl eingeschlafen?

3. Tag: Schon das Umhängen der Kamera am Vormittag nervt mich, weil ich weiß dass ich mit umgehängter Kamera produktiv sein muss. Ich will möglichst schnell möglichst viel Zeit verschwenden, damit es vorbei. Ich entscheide mich dafür eine Zeitschrift und später weiter in meinem Buch zu lesen.

Meine Mitbewohnerin kommt früher als gedacht aus dem Wochenende zurück. Ich kläre sie über die Kamera auf, sie antwortet sofort damit, dass sie nicht auf den Fotos sein möchte und meidet mich. Bei einem Gespräch in der Küche stellt sie sich immer entweder neben oder hinter mich. Im Verlauf des Gesprächs vergisst sie die Kamera oder ist es ihr mittlerweile auch egal?

Ähnlich wie bei der Klausurvorbereitung brauche ich Ablenkung um das Experiment endlich hinter mich zu bringen, ich fange an zu putzen.

Um die letzten Minuten zu überstehen schaue ich mir Videos auf youtube an.


subjektive Zeit

Aufgrund der technischen Probleme entschied ich mich den Selbstversuch auf eine bestimmte Art der Selbstvermessung zu konzentrieren Während meines dreitägigen Selbstversuch machte ich mir ständig Gedanken ob meine Handlungen die Kamera aufzeichnet sinnvoll sind im Sinne von: „ Könnte ich jetzt auch was sinnvolleres tun?“ dabei ist mir im besonderen aufgefallen, dass meine subjektive Zeitwahrnehmung anders ist. Der gesellschaftliche Druck der einem Individuum suggeriert immer fleißig und produktiv zu sein, ist hier durch die Lifeloggingkamera dargestellt und somit auch im privaten Raum präsent. Ich habe meinen Alltag wie üblich innerhalb des dreitätigen Versuchs gelebt, jedoch wurden Handlungen die von der heutigen Gesellschaft nicht als Tugenden bezeichnet werden zeitlich derart verlängert, dass man eben erwähnten Druck nun auch im privaten Leben spürt.

Tätigkeiten wie das Anschauen einer Episode einer Serie oder das Surfen im Internet, kurz gesagt Tätigkeiten zum Zeitvertreib, wurden zeitlich in die Länge gestreckt, wobei mit steigender Zahl der Untätigkeitsdauer mir die Minuten immer länger vorkamen. Wohingegen dieser Effekt bei Tätigkeiten wie z.B. Hausarbeit nicht so gravierend war.

Das die subjektive Zeitwahrnehmung nicht der objektiven Zeitwahrnehmung entspricht ist ein alter Hut, jedoch war für mich neu, dass ein Gerät das alle 2 Minuten Fotos schießt die subjektive Zeitwahrnehmung verändert.

Um diesen Effekt zu illustrieren habe ich mir exemplarisch den letzten der drei Versuchstage ausgesucht und die Fotos nach Handlungen gruppiert, dieser bot sich daher an, da hier der Effekt am deutlichsten war. Daraus habe ich dann jeweils drei slideshows erstellt:

  • Die Handlung mit objektiver Zeitmessung
  • Die Handlung mit subjektiver Zeitwahrnehmung und mit Lifeloggingkamera,
              hierbei habe ich die Bilder zeitlich so angeordnet wie ich die Zeit während des Versuchs empfunden habe.
  • Die Handlung mit subjektiver Zeitwahrnehmung und ohne Lifeloggingkamera,
             diese slideshow habe ich aus meiner sonst empfundenen Zeitwahrnehmung abgeleitet 
             und die auf lifelogging-Bilder angewendet.

Damit man meinen Tag auf verschiedene Weisen erleben kann, entschied ich mich für eine Präsentation die nicht linear abläuft. Ich wollte sowohl einen Vergleich der Handlung zwischen objektiv, subjektiv mit Kamera und subjektiv ohne Kamera darstellen und desweiteren auch wie kurz bzw. lang ein Tag sein kann. Ich habe mich für korsakow entschieden, hierbei kann sich der User die Erfahrung selbst zusammenstellen.

Nach einer Testphase ist mir aufgefallen, dass gerenderten allesamt zu lang sind und dementsprechend auch langweilig (es wurde 2 Minuten lang ein Bild angezeigt) habe ich die Abspielgeschwindigkeit der slideshows erhöht. Ein zweiminütiges Intervall wurde somit auf 30 Sekunden verkürzt und analog dazu wurden die anderen Videos um den Faktor vier verkürzt. Dies ist zwar immernoch nicht unbedingt spannend, bildet aber jedoch meiner Meinung nach ein Kompromiss. Denn zum Einen soll die Banalität des Alltags dargestellt werden und zum Anderen soll aber der Zuschauer doch nicht vor Langeweile das Fenster wegklicken.

interaktives Video

interaktives Video

Literatur

  • Baumann/Lyon (2013): Daten, Drohnen, Disziplin. Frankfurt/Main: Suhrkamp
  • Dany (2013): Morgen werde ich Idiot. Hamburg: Nautilus
  • Henri Bergson (1891): Zeit und Freiheit