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Inhalt

Einleitung:

In unserer Gesellschaft herrscht allgegenwärtige Überwachung, auf öffentlichen Plätzen sind wir dem Blick von Kameras ausgesetzt, im Internet geben wir unsere Daten freiwillig Preis. Überwachung und Selbstdisziplinierung sind fester Bestandteil des Lebens geworden. Es herrscht eine durchaus ambivalente Stimmung in der Gesellschaft gegenüber der allgegenwärtigen und willkürlichen Überwachung. In sozialen Netzwerken werden laufend die neuesten Enthüllungen und Überwachungsskandale verbreitet und von den Nutzern kommentiert. Dieselben, die sich über die aktuellen Zustände auf diesen Plattformen auslassen, füttern das System bereitwillig mit Informationen. Andere wiederrum behaupten sie hätten nichts zu verbergen, Überwachung ließe sie somit kalt. Tatsache ist jedoch dass Menschen empfindlicher werden dringt man in ihre sicher gewähnten Schutzzonen und Privaträume ein. Wie wenig kann ein Mensch zu verbergen haben? Was wollen wir nach außen tragen? Und vor allem: Wie agiert ein Mensch wenn er sich sicher ist, dass er nichts verbergen kann?

Versuchsaufbau:

Diesen Fragen möchte ich anhand eines Selbstversuches nachgehen. Der Versuchsaufbau ist im Folgenden beschrieben:

Der Proband wird für 24 Stunden mit einem portablen Audiorecorder ausgestattet. Dieser muss zu jeder Zeit einsatzbereit am Körper getragen werden. Mit dem Aufstehen beginnt die Aufnahme und endet erst nach 24 Stunden. Zu keiner Zeit darf der Recorder ausgeschaltet oder abgelegt werden (es sei denn für Batteriewechsel). Die 24 stündige Audiofile wird danach frei zugänglich auf einer Website zum Stream angeboten. Der Proband bekommt den Auftrag seinen Tag so normal wie möglich zu gestalten. (oder nur das nötigste zu erledigen und sonst in Stille zu verweilen, mal sehen) Die Frage ist, inwieweit ihm das durch die dauerhafte Überwachung überhaupt möglich ist.

Die Annahme ist, dass einfachste Tätigkeiten plötzlich nicht mehr so selbstverständlich nachgegangen werden kann und dass sehr wohl Dinge im Verborgenen oder Privaten ablaufen müssen. Problematisch wird vermutlich vor allem der ungefilterte Charakter der Information. Durch die Allgegenwärtigkeit der Überwachung und der Tatsache, dass jeder ein potentieller Beobachter werden kann, indem er sich die Soundfile anhört, können in diesem Zeitraum zum Beispiel keine privaten Gespräche entstehen. Der Proband muss sich zu jeder Zeit darüber im Klaren sein dass tausende potentielle Beobachter jede Sekunde des Tages nachverfolgen können.

Präsentation:

Ursprünglich sollte die Präsentation auf einer Website erfolgen, auf der die Audio Datei als Stream abgespielt wird. Diese Website sollte relativ minimalistisch aufgebaut sein und so wenig Unterseiten wie möglich besitzen. Im Laufe der Arbeit wurde dieses Konzept jedoch verworfen. Stattdessen wird das Material nun über einen indirekteren Weg präsentiert: Aus den aufgenommenen Klängen des Alltags wird ein Musikstück produziert, wobei sämtliche zu hörenden Instrumente ihren Ursprung in dem aufgenommenen Material haben. Dies wird möglich durch sogenannte Granularsynthese.

Vorversuch und Überlegungen:

erster Vorversuch: Mitte Dezember 2013

Laufzeit: ca 90 Minuten

Zum Aufbau:

Das Mikrofon war ungünstig in der Hosentasche des Probanden platziert, wodurch es relativ oft Störgeräusche gab. Statt des internen Mikrofons des Audiorekorders sollte ein kleines, leicht anzubringendes externes verwendet werden.

Rechtliche Situation:

§ 201 Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes (1) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer unbefugt

1. das nichtöffentlich gesprochene Wort eines anderen auf einen Tonträger aufnimmt oder

2. eine so hergestellte Aufnahme gebraucht oder einem Dritten zugänglich macht. (2) Ebenso wird bestraft, wer unbefugt

1. das nicht zu seiner Kenntnis bestimmte nichtöffentlich gesprochene Wort eines anderen mit einem Abhörgerät abhört oder

2. das nach Absatz 1 Nr. 1 aufgenommene oder nach Absatz 2 Nr. 1 abgehörte nichtöffentlich gesprochene Wort eines anderen im Wortlaut oder seinem wesentlichen Inhalt nach öffentlich mitteilt. Die Tat nach Satz 1 Nr. 2 ist nur strafbar, wenn die öffentliche Mitteilung geeignet ist, berechtigte Interessen eines anderen zu beeinträchtigen. Sie ist nicht rechtswidrig, wenn die öffentliche Mitteilung zur Wahrnehmung überragender öffentlicher Interessen gemacht wird. (3) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer als Amtsträger oder als für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteter die Vertraulichkeit des Wortes verletzt (Absätze 1 und 2). (4) Der Versuch ist strafbar. (5) Die Tonträger und Abhörgeräte, die der Täter oder Teilnehmer verwendet hat, können eingezogen werden. § 74a ist anzuwenden.

Somit darf aufgrund der rechtlichen Situation das Experiment nicht im öffentlichen Raum durchgeführt werden. Viel mehr muss der Proband zu seiner Sicherheit isoliert werden. Ein Einkauf ist zum Beispiel nicht möglich da im Supermarkt und auf dem Weg dort hin potentiell Gespräche ohne Kenntnis des Anderen aufgezeichnet werden könnten, auch wenn es nicht in der Absicht des Probanden liegt. Durch die Verbreitung im Internet ist weiterhin der Tatbestand der öffentlichen Mitteilung und die Weitergabe an Dritte erfüllt.

Daraus ergibt sich dass der überwachte Proband nicht nur die Rolle des Beobachteten einnimmt sondern gleichzeitig als Beobachter fungiert.

Eine Kommunikation mit anderen Personen darf also nur stattfinden, wenn diese ausdrücklich über die Aufzeichnung informiert werden und dieser, sowie der Veröffentlichung zustimmen. Auch muss der Proband darauf achten, nicht versehentlich Gespräche von Fremden zu belauschen.

Der Druck auf den Probanden erhöht sich durch diese Situation, einerseits ist er selbst bemüht sich keine Blöße zu geben, andererseits steht er in der Pflicht unbeteiligte von der Überwachung abzuschirmen um diese und sich nicht in Gefahr zu bringen.

Versuchsprotokoll:

Zeitpunkt: Ende Dezember 2013

Laufzeit: ca 12 Stunden

Zum Aufbau:

Der Audiorekorder war wie beim Vorversuch in der Hosentasche des Probanden platziert, ein externes Mikrofon war jedoch am Kragen angesteckt um Störgeräusche zu vermeiden.

Protokoll und Reflexion:

Der Versuch wurde an einem Sonntagmorgen gegen 10 Uhr gestartet. Anfangs waren parallelen zum Vorversuch erkennbar und ich fühlte mich in der ersten Stunde nicht sonderlich durch das Überwachungsgerät beeinträchtigt. Ich verbrachte den Vormittag hauptsächlich mit dem schauen von Serien und der Arbeit an einem 3D Modell. Nach ungefähr zwei Stunden beschlich mich ein seltsames Gefühl welches sich durch leichte Nervosität und eine allgemeine Unruhe äußerte. Zu diesem Zeitpunkt wurde mir bewusst, dass mich der Versuchsaufbau den ganzen Tag an das Haus fesseln würde, da ich mich aufgrund der rechtlichen Situation dazu entschlossen hatte so wenig Kontakt zur Außenwelt wie möglich aufzunehmen. Da ich jedoch zu diesem Zeitpunkt in meine Arbeit vertieft war konnte ich den Gedanken beiseitelegen.

Durch das Aufgehen in der Arbeit stellte sich ein sogenannter "Flow" ein. Ich werde im Folgendem kurz auf diesen Begriff eingehen, da dieser Zustand für den weiteren Verlauf eine wichtige Rolle spielt. "Flow" kann sich einstellen, sobald eine Aktivität die volle Konzentration erfordert. Die Anforderung darf jedoch nicht so hoch sein dass sich eine Frustration ergibt. Ist beides gegeben stellt sich eine Selbst- und Zeitvergessenheit ein, in der alle Sorgen und Gedanken, die nicht zu der Tätigkeit beitragen, verschwinden. Dadurch entsteht eine Harmonie zwischen Verstand und Emotionen, Herzschlag, Blutdruck und Atemfrequenz sind optimal aufeinander abgestimmt. Durch diesen Zustand vergaß ich also für eine gewisse Zeit das Überwachungsgerät und konnte mich sorglos meiner Arbeit hingeben. Diese Tatsache allein ist wenig überraschend und auch nicht sonderlich aussagekräftig. Der wirklich spannende Moment war der, an dem ich aus diesem Zustand erwachte: Ich verlor für einen kurzen Moment die Konzentration und der "Flow" Zustand in dem ich mich befunden hatte wurde mir bewusst. Dadurch drängte sich mit erschreckender Plötzlichkeit wieder das Bewusstsein der Überwachung auf. Mein Reaktion darauf war eine tatsächliche Schreckreaktion, mein Atemfrequenz wurde ruckartig schneller und ich befand mich für einen Moment in einer Art Starre. Fieberhaft versuchte ich mich zu erinnern ob ich während der Zeit des Flows für die Aufnahme unangebrachte Geräusche von mir gegeben hatte. Ich fragte mich was ich in dieser Zeit überhaupt getan hatte, hatte ich gesummt? Mich geräuspert, gar mit mir selbst gesprochen? Da ich auf diese Fragen keine Antwort finden konnte nahm ich mir vor, nicht wieder in diese Situation zu kommen. Ich hatte die Kontrolle über mich selbst verloren. Bei diesem Gedanken stockte ich und musste mir eigestehen wie sehr dieses Gerät doch schon in meinen Tagesablauf eingegriffen hatte.

Ich wollte die aufgezeichneten Geräusche kontrollieren, ich wollte selbst bestimmen was von mir an die Öffentlichkeit gelangt und mich dahingehend disziplinieren. Dieser Kontrollverlust durch den Flowzustand wurde von mir also als eine Art Gefährdung meiner kontrollierten Informationsausgabe wahrgenommen. Bemerkenswert ist vor allem dass dieser Schreckmoment so einschneidend war, dass ich an diesem Tag nicht mehr in den besagten Flowzustand zurückkehren konnte. Ich arbeitete später zwar an der gleichen Tätigkeit weiter, war mit einem Teil meiner Gedanken jedoch immer damit beschäftigt mich selbst zu kontrollieren.

Kurz danach kam ich erneut in eine seltsame Situation. Ich ging in das Wohnzimmer um mir etwas zu trinken zu holen, als mir meine Mutter über den Weg lief. Ich hatte meine Familie vor dem Experiment über dieses aufgeklärt und auch klargemacht dass jedes gesprochene Wort an die Öffentlichkeit gelangen könnte. Meine Mutter wollte mir offensichtlich etwas mitteilen, blieb jedoch stumm und versuchte mir mit Gesten klar zu machen was sie von mir wollte. Auch ich hielt mich in der verbalen Kommunikation sehr zurück und beschränkte meine Aussagen auf ein Minimum. Meine Mutter sah sich gezwungen über kleine Zettel mit mir zu kommunizieren, die sie schrieb und mir aushändigte, woraufhin ich meine Antwort auf den Zettel schrieb. Interessant war hierbei vor allem wie ich von meiner Familie wahrgenommen wurde. Einerseits wollten sie mit mir kommunizieren und sahen mich weiterhin als Familienmitglied an, jedoch wurde dies von meiner Funktion als "Drohne" überschattet. Dies merkte ich vor allem schnell daran, dass Räume in denen ich mich befand gemieden wurden und Gespräche sehr schnell verstummten sobald ich einen Raum betrat. Als Überwachungsdrohne störte ich den familiären Privatraum und machte ihn zu einem öffentlichen in der jeder sich plötzlich genau überlegte was er von sich gab. Da ich mich die meiste Zeit des Tages in meinem Zimmer aufhielt, war dies zunächst kein Problem. Die Situation eskalierte erst beim gemeinsamen Abendessen. Mein Vater forderte mich dazu auf das Mikrofon für diese Zeit abzulegen oder auszuschalten, als ich mich weigerte, baten mich meine Eltern den Tisch zu verlassen. Ich holte mir also einen Teller ab und ging auf mein Zimmer während die anderen beisammen saßen. In diesem Moment fühlte ich mich von der Tisch- und Familiengemeinschaft ausgeschlossen, ich azeptierte dies jedoch und aß allein in meinem Zimmer, während ich eine Serie schaute um zumindest eine Art von parasozialem Kontakt herzustellen. Bemerkenswert ist, dass während des Tages meine Laune stetig schlechter wurde, unterbrochen von dem bereits erwähnten Flowzustand. Nach dem Abendessen fühlte ich mich relativ nutzlos, allein und hatte das Gefühl den Tag nicht zu meinen Gunsten genutzt zu haben. Ich beschloß also weiter an meinem 3D Modell zu arbeiten, jedoch hatte meine Konzentrationsfähigkeit zu sehr nachgelassen.

Eine Wut, die sich den ganzen Tag bereits aufgebaut hatte nahm nun Überhand, ich verfluchte den Versuch auf den ich mich eingelassen hatte und wollte meinen Frust an dem Gerät auslassen, was ich natürlich nicht tat. Ich hatte das Gefühl, dass dieses Medium zu einer Art Fessel für mich geworden war, welches mich zu bestimmten Handlungsweisen und Kommunikationsmustern zwang. Dass ich mir selbst diese Bürde auferlegt hatte war mir in diesem Moment entweder nicht bewusst oder egal. Als meinen Unterdrücker sah ich das kleine Stück Plastik welches an meinem Kragen hing und ich sehnte mich danach das Kabel zu zerreißen und den Peiniger auf dem Boden zu zerstampfen.

Nach ungefähr 11 Stunden lagen meine Nerven blank, ich war wütend, fühlte mich verlassen, langweilte mich und stand gleichzeitig unter großer Anspannung und emotionalem Stress. Ich beschloss also gegen 21 Uhr schlafen zu gehen um mich nicht weiter mit der Situation auseinandersetzen zu müssen. Das Aufnahmegerät legte ich jedoch neben meinem Kissen ab um weiterhin Material zu sammeln. Obwohl dem Aufnahmegerät nach wenigen Stunden der Akku ausging hatte ich einen sehr unruhigen Schlaf und wachte in dieser Nacht einige Male auf. Der Tag hatte mich offensichtlich sehr mitgenommen und am nächsten Morgen war ich froh, den Versuch beendet zu haben.

Die Elektronische Fußfessel und das Panoptikon

"Die elektronische Fußfessel ist mit einem Sender ausgestattet, der mit einem stationären Empfänger per Telefon- oder per Mobilfunknetz mit der zuständigen überwachenden Behörde (im hessischen Pilotprojekt ist dies die Bewährungshilfe) verbunden ist. Bei Verwendung einer mobilfunkangebundenen elektronischen Fußfessel kann der Standort des betroffenen Menschen rund um die Uhr überwacht und kontrolliert werden.[1] Der Tagesablauf des Straftäters wird vorher in einem Wochenplan genau festgelegt; falls es zu Fehlermeldungen kommt, wird der Überwachte kontaktiert, der sich dann rechtfertigen muss. Bei häufigen oder gravierenden Verstößen kann so die Bewährung widerrufen werden bzw. der Haftbefehl wird wieder in Vollzug gesetzt. Oftmals wird die Anwendung der Fußfessel unzutreffenderweise als „Kuschelvollzug“ dargestellt. Tatsächlich hat Frankreich im Rahmen seines Pilotprojekts nun die Anwendung der Fußfessel auf sechs Monate beschränkt, weil nach dieser Zeit die ersten psychischen Ausfälle zu beobachten sind. Der Grund hierfür ist, dass kein direkter physisch wahrnehmbarer Druck von außen (durch Mauern, Gitter, Wachpersonal usw.) auf den Träger ausgeübt wird. Stattdessen muss der Verurteilte sich selber disziplinieren. Für ihn gibt es nur die viel abstraktere Drohung, dass ihn die Polizei nach einem Verstoß wieder „einfangen“ wird. Den physischen Druck muss der Verurteilte selber auf sich ausüben. Es gibt mittlerweile einschlägige Erfahrungen mit der Fußfessel aus den USA. Demnach kostet ein Gefängnisaufenthalt den US-Steuerzahler durchschnittlich 35 US$ pro Tag und Insasse, während die Fußfessel durchschnittlich 7 US$ pro Tag und Insasse kostet. Mit der Fußfessel werden dabei Rehabilitationsquoten von über 70 % erreicht."

Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Elektronische_Fu%C3%9Ffessel

Während des Experiments ließen sich bemerkenswerte Parallelen zu dem Prinzip der elektronischen Fußfessel feststellen. Zwar wurde weder mein Tag von einer Institution reguliert, noch wurde meine Position kontrolliert, doch das Abstraktionsniveau der Bedrohung ist dem der elektronischen Fußfessel sehr ähnlich. Es war kein physicher Druck durch Gitter, Wächter oder ähnliches zu spüren, theoretisch hätte ich mich während des Experiments frei bewegen können. Nichtsdestotrotz fühlte ich mich gefangen und kontrolliert. Das Gerät in meiner Hosentasche war mein kleines Panoptikon, in dem ich mich selbst dauerhaft disziplinierte. Der tatsächliche "Blick" einer überwachenden Gewalt war zu keinem Zeitpunkt gegeben. Da das Audiomaterial auch nicht direkt gestreamt wurde, könnte man meinen es wäre kein Gefühl der Überwachung entstanden. Was jedoch völlig genügte, war mein Bewusstsein über die ständige Aufzeichnung, die mich zu meinem eigenen Wärter machte. Ich war die Person, die meinen Tagesablauf kontrollierte, regulierte und beobachtete ob ich nicht meine mir selbst auferlegten Gesetze brach.

Blick, Kontrolle und soziale Normen

dies führt zu meiner nächsten Frage: war tatsächlich ich der Überwachende? Oder war das Bewusstsein, dass in naher Zukunft jede Person X das Material anhören könnte die eigentliche Druckausübende Gewalt? Ist ein Blick auf uns gerichtet verhalten wir uns anders, unter der Kontrolle des Blickes disziplinieren wir uns zum erwünschten Verhalten. Sehen wir dabei unser Gegenüber, verliert die Gefahr an Abstraktion, sie wird realer und personalisierter. Bei einer Überwachungskamera schauen wir in das leere Auge des Mediums, ob eine Person dahinter sitzt, oder wer dies ist können wir nicht erahnen. Der Blick aus dem Dunkeln ist der, der uns am meisten Furcht bereitet, was wir nicht sehen können wir nicht einschätzen.

In meinem Experiment handelt es sich um solch einen Blick aus dem Dunkeln. Durch die Veröffentlichung der Audiodateien entstehen unzählige potentielle Beobachter. Wer sie sind weiß ich nicht, auch nicht was sie aus meiner Überwachung gewinnen können. Es ist keine Institution die mich mit festen Regeln disziplinieren möchte, es gibt keine erwünschten Verhaltensmuster, keine Rückkopplung, keine Regeln. Dies ist der tatsächliche Blick aus dem Dunkeln, er beurteilt nicht, zumindest werde ich es nie erfahren. Dieser stille Beobachter, der potentiell jede erdenkliche Person sein könnte lässt mich im unklaren darüber was von mir erwartet wird. Ich kann mein Verhalten nicht anpassen, er ist unersättlich und wird sich nicht zufriedenstellen lassen. Je weiter man diesen Gedanken spinnt um so paranoider klingt das Ergebnis, Tatsache ist jedoch dass man sich unter diesem Blick keine Blöße geben möchte. Das eigentlich perfide ist dass dieser Blick ein stiller ist, durch die fehlende Rückmeldung diszipliniert man sich selbst mehr, als es der erhobene Zeigefinger könnte. Man muss also zwischen Beobachter als Institution oder Organ und der Druckausübenden Gewalt unterscheiden.

Beobachter waren im Falle meines Experimentes hauptsächlich die Personen, die sich das Material (vielleicht) irgendwann einmal anhören. Da diese Beobachter jedoch sehr abstrakt und für mich nicht greifbar waren, waren sie als Druckausübende Gewalt, als Kontrolleure nicht wirksam. Ich musste mich also selbst disziplinieren um den Beobachtern sowenig auswertbares Material wie möglich zu hinterlassen. In meiner Position als Kontrolleur war ich natürlich auch mein eigener Beobachter, hier verschmelzen Beobachter und Kontrolleur.

Das Gerät selbst funktionierte in diesem Modell als eine Art Verstärker sozialer Normen und Erwartungshaltungen. Diese teilweise ungeschriebenen Gesetze sind uns durch die Gesellschaft aufgeprägt und permanent in unserem Hinterkopf. Wenn wir uns nicht in der Gesellschaft bewegen, können wir Teile dieser Normen auch beiseite legen und uns von den Erwartungshaltungen lösen. Dies kann sich in Kleinigkeiten äußern, viele Menschen singen zum Beispiel, wenn sie alleine im Auto sitzen, oder beschimpfen andere Autofahrer. Emotionale Ausbrüche sind ein gutes Beispiel für etwas, das von sozialen Normen und Erwartungshaltungen unterbunden wird. Von erwachsenen Menschen wird in unserer Gesellschaft erwartet, dass sie ihre Emotionen unter Kontrolle haben. Diese Erwartung übt Druck auf die Menschen aus, sodass sie sich dahingehend selbst disziplinieren, dieses Verhalten zu unterbinden. Viele Menschen verschieben diese emotionalen Momente daher in ein Umfeld, in denen sie der Blick der Gesellschaft nicht erreicht, zum Beispiel im Auto oder in den eigenen vier Wänden. In meinem Experiment gab es nun einen solchen Privatraum nicht mehr. Die sozialen Normen und Erwartungshaltungen wurden über das Aufnahmegerät verstärkt und ich war dauerhaft dem Druck der Gesellschaft ausgesetzt. Erstaunlicherweise wurden diese Gesellschaftlichen Normen sogar weiter verstärkt als in bestimmten sozialen Situationen. Warum sich dies so verhält habe ich versucht mit meiner These des "stillen Blickes" zu erläutern. Wir passen uns verschiedenen sozialen Erwartungshaltungen situativ an, in einem Bewerbungsgespräch verhalten wir uns anders als in unserem Freundeskreis. Wird die soziale Situation nun von der Überwachung entkoppelt, versuchen wir aus Vorsicht allen potentiellen Situationen gerecht zu werden, womit eine Verstärkung sozialer Normen einhergeht.

Wirkung und Aufbereitung

Dieses Kapitel soll Aufschluss darüber geben, wie sich das Erlebnis von dem aufgenommenen Material unterscheidet und was dies für den weiteren Verlauf der Arbeit bedeutet. In den vorrangegangenen Kapiteln habe ich mich eingehend mit dem Erlebten befasst und die Wirkung auf mich in dem Moment des Experimentes beschrieben. Die Wirkung die das aufgenommene Material hat ist eine gänzlich andere: es ist schlichtweg unglaublich langweilig und unspektakulär, die aufwühlenden Gefühle und die Stresssituation ist in dem Audiomaterial quasi nicht vorhanden.

Aus diesem Grund wurde das ursprüngliche Präsentationskonzept von mir verworfen, zugunsten eines künstlerischen Vorgehens. Ziel war es das langweilige Material zu etwas aussagekräftigem und emotionalem zu formen, was das Erlebte besser ausdrückt als die reine Aufnahme. Die Gedanken und Erlebnisse, die auf der Aufnahme nicht zu hören sind sollten nun nach außen gekehrt und hörbar gemacht werden. Dafür setzte ich mir folgende Einschränkung: Jedes Instrument und jeder Sound in dem Stück sollte aus dem aufgenommenen Audiomaterial gewonnen werden. Es war mir wichtig bestimmte Eindrücke musikalisch festzuhalten, so spielt der monotone Tagesablauf eine wichtige Rolle und findet sich in verschiedenen Elementen des Stückes wieder. Auch den Moment der Sorglosigkeit, der sich plötzlich in Schrecken wandelt war mir besonders wichtig und das Gefühl der Paranoia und Kontrolle sollte durch ein musikalisches Thema ausgedrückt werden.

Link 24:

Musikstück "24"

Literatur

  • Baumann/Lyon (2013): Daten, Drohnen, Disziplin. Frankfurt/Main: Suhrkamp
  • Dany (2013): Morgen werde ich Idiot. Hamburg: Nautilus